Charkiw, Ukraine
Friedhof für die Opfer des Totalitarismus
Die sterblichen Überreste von 4 400 polnischen Soldaten und Offizieren, die vom NKWD nach dem sowjetischen Einmarsch in Ostpolen am 17. September 1939 in einem Speziallager in Koselsk interniert worden waren, wurden bereits im April 1943 von der deutschen Besatzungsmacht im Wald von Katyń bei Smolensk aufgefunden und sorgten für internationales Aufsehen. »Katyń« als symbolträchtige Chiffre für den Massenmord an polnischen Militärs war damit etabliert. Dagegen blieben die Exekutionsorte und letzten Ruhestätten tausender weiterer Kriegsgefangener, die in den Lagern Starobilsk und Ostaschkow festgehalten worden waren, noch für Jahrzehnte unbekannt.
Erst im Frühjahr 1990, nachdem der Staats und Parteichef Michail Gorbatschow offiziell die sowjetische Verantwortung für die Morde eingeräumt hatte, tauchten erste Hinweise darauf auf, dass die Leichen polnischer Offiziere aus dem Speziallager Starobilsk im Wald von Pjatychatky am nördlichen Stadtrand der ostukrainischen Großstadt Charkiw beerdigt wurden. Wie hunderte sowjetische Opfer des stalinistischen Terrors der 1930er Jahre, waren auch sie im Keller des NKWD-Gefängnisses in Charkiw erschossen und daraufhin in Massengräbern in dem Waldgebiet vergraben worden. Dies wurde im Juni 1990 erstmals von der Charkiwer Regionalverwaltung der sowjetischen Geheimpolizei KGB bestätigt.
Erste Exhumierungen durch eine polnische Expertengruppe fanden im Sommer 1991 statt. Das dabei aufgefundene Skelett eines polnischen Offiziers wurde in einer feierlichen Zeremonie am 10. August 1991 symbolisch beigesetzt. Auf dem Grab wurden ein sieben Meter hohes Eichenkreuz und eine Tafel mit polnischer Inschrift auf gestellt. Schon zuvor hatte die KGB-Verwaltung ein Denkmal für die Opfer des Stalinismus auf dem Gelände errichten lassen. Nach der Unabhängigkeit der Ukraine konnte am 21. März 1994 ein Vertrag zwischen den Regierungen Polens und der Ukraine unterzeichnet werden, der weitere Exhumierungsarbeiten und die Einrichtung eines Friedhofs für die Opfer in Charkiw vorsah. Während der Ausgrabungen, die in den Sommermonaten der Jahre 1994 bis 1996 durchgeführt wurden, wurden insgesamt 4302 getötete Polen gefunden, darunter allein 1025 in einem großen Massengrab. Die ukrainische Seite bestand angesichts der räumlichen Nähe der Gräber darauf, eine gemeinsame Gräberstätte, und nicht nach Nationalitäten getrennte Friedhöfe, für alle an diesem Ort bestatteten Opfer des Totalitarismus zu errichten. Dies wurde von Polen schließlich akzeptiert, sodass der staatliche polnische »Rat zur Bewahrung des Gedenkens an Kampf und Martyrium« am 17. Juli 1995 einen Gestaltungswettbewerb für die drei Friedhöfe in Katyń, Charkiw und Mednoje ausschreiben konnte.
Als Ergebnis dieses Wettbewerbs wurde der Entwurf einer von Zdzisław Pidek aus Danzig geleiteten Projektgruppe zur Realisierung ausgewählt, an der außerdem Andrzej Sołyga sowie Wiesław und Jacek Synakiewicz beteiligt waren. Ihr Entwurf sah als zentrale Elemente aller drei Friedhöfe eine senkrechte Gedenkwand, eine unterirdische Glocke sowie einen Altartisch mit Kreuz vor. Die Details der Ausführung weichen je nach örtlichen Gegebenheiten ab; in Charkiw betrifft dies vor allem den gemeinsamen polnisch-ukrainischen Charakter des Friedhofs.
Der Grundstein zum Bau des Friedhofs wurde in Charkiw am 27. Juni 1998 in Anwesenheit der polnischen und ukrainischen Staatspräsidenten, Aleksander Kwaśniewski und Leonid Kutschma, gelegt. Der Friedhof in Charkiw wurde über wiegend aus Mitteln des polnischen Staates errichtet und als erste der drei Gedenkstätten für die Opfer von Katyń am 17. Juni 2000 eingeweiht. An der feierlichen Zeremonie nahmen die Ministerpräsidenten Polens und der Ukraine, Jerzy Buzek und Wiktor Juschtschenko, der Militärbischof der Polnischen Armee, Sławoj Leszek Głódź, Geistliche weiterer Konfessionen sowie Angehörige der Opfer teil.
Der Eingang der 2,31 Hektar großen Gedenkstätte wird von zwei eisernen Obelisken flankiert, die das Wappen der Polnischen Armee sowie das ukrainische Staatswappen mit dem Dreizack tragen. Von dort aus führt ein mit schwarzen Basaltsteinen gepflasterter Weg durch den Wald zu den Gräbern, der sogenannte »schwarze Weg«. Zunächst passiert der Weg vier Steine mit den Symbolen der Religionen, deren Ange hörige auf dem Friedhof begraben sind. Im weiteren Verlauf, der ein unregelmäßiges Rechteck beschreibt, führt er vorbei an 75 Grabhügeln, die ebenfalls mit schwarzen Basaltsteinen gepflastert sind und jeweils ein katholisches bzw. orthodoxes Kreuz aus Eisen tragen. Von diesen Grabhügeln sind 15 Massengräber polnischer Offiziere, bei den übrigen 60 handelt es sich um deutlich kleinere Gräber ukrainischer Opfer des Stalinismus.
Die Hauptelemente des Friedhofs bilden zwei senkrechte eiserne Gedenkwände, in deren Oberfläche die Namen der Opfer eingraviert sind. An der Wand für die ukrainischen Opfer sind rund 2800 Namen zu lesen, an derjenigen, für die ermordeten polnischen Offiziere, rund 4300. Beide Wände stehen sich auf einer breiten Achse gegenüber, die den »schwarzen Weg« schneidet und an deren Seiten 3800 eiserne Epitaphen mit Namen, Geburtsdaten und militärischen Rängen der identifizierten Opfer waagerecht auf dem Boden angebracht sind. Außerdem befinden sich hier ein Sockel mit dem Kreuz des polnischen »Virtuti Militari«-Ordens sowie des Ordens des »September-Feldzugs 1939«.
Die Gedenkwand für die polnischen Opfer wird in der Mitte durch ein großes Kreuz unterbrochen, an dessen Basis eine Glocke angebracht ist. Diese ist mit dem Text des ältesten bekannten polnischen Kirchenliedes, der mittelalterlichen »Bogurodzica« (»Mutter Gottes«), beschriftet und hängt zum größten Teil unter dem Niveau des Bodens, um die jahrzehntelange Mahnung der im Geheimen ermordeten und begrabenen Opfer zu symbolisieren. Vor der Glocke befinden sich ein schlichter eiserner Altartisch sowie die in den Boden eingelassene, polnisch-sprachige und mit dem gekrönten polnischen Adler versehene Gedenktafel des Friedhofs. Außerdem erinnert eine zweisprachige Eisentafel, die das polnische Staatswappen und den ukrainischen Dreizack trägt, an die Grundsteinlegung im Jahr 1998.
Inschriften
Inschrift der zentralen polnische Gedenktafel
(auf dem Friedhof)
W hołdzie / ponad 4.300 oficerów /
Wojska Polskiego – / jeńcom wojennym /
z obozu w Starobielsku /
i sowieckich więzień / zamordowanych przez NKWD / wiosną
1940 r. / w Charkowie / Naród Polski
Deutsche Übersetzung:
Zu Ehren der über 4300 Offiziere der Polnischen Armee, Kriegsgefangene aus dem Lager Starobilsk und aus sowjetischen Gefängnissen, die im Frühling 1940 durch den NKWD in Charkiw ermordet wurden. Die polnische Nation
Zu Ehren der über 4300 Offiziere der Polnischen Armee, Kriegsgefangene aus dem Lager Starobilsk und aus sowjetischen Gefängnissen, die im Frühling 1940 durch den NKWD in Charkiw ermordet wurden. Die polnische Nation
Sprache: Polnisch, Schrift: Lateinisch
Inschrift der Tafel zur Grundsteinlegung 1998
(auf dem Friedhof)
27 czerwca 1998 r. / Prezydenci Polski i
Ukrainy / położyli w tym miejscu /
poświęcony przez / Ojca Świętego / Jana
Pawła II / kamień węgielny / pod budowę /
Cmentarza Ofiar Totalitaryzmu, / oficerów
Wojska Polskiego / oraz mieszkańców Charkowa
/ i ziemia charkowskiej, / zamordowanych
przez NKWD / w Charkowie. / Cierpieniu
– prawdę, / umarłym – modlitwę, / w
obliczu Boga wszechmogącego / Rodacy /
Warszawa – Charków / 1998 r.
27 Червня 1998 р. / Президенти України
й Польщі / поклали на цьому місці /
освячений / Святішим Отцем / Іоанном
Павлом ІІ / наріжний камінь / під будову /
Кладовища Жертв Тоталітаризму, /
офіцерів Війська Польського, / а також
жителів Харкова / і харківської землі, /
закатованих НКВС / у Харкові. /
Стражданню – правду, / упокоєним –
молитву. / Перед ликом всемогутнього
Бога / Земляки /
Варшава – Харків / 1998 р.
Deutsche Übersetzung:
Am 27. Juni 1998 legten die Präsidenten Polens und der Ukraine an diesem Ort den vom Heiligen Vater Johannes Paul II. geweihten Grundstein für den Bau des Friedhofes für die Opfer des Totalitarismus, die Offiziere der Polnischen Armee sowie die Einwohner der Stadt und Region Charkiw, die vom NKWD in Charkiw ermordet wurden. Dem Leid – die Wahrheit, für die Toten – das Gebet, im Angesicht Gottes, des Allmächtigen. Die Landsleute, Warschau – Charkiw 1998«
Am 27. Juni 1998 legten die Präsidenten Polens und der Ukraine an diesem Ort den vom Heiligen Vater Johannes Paul II. geweihten Grundstein für den Bau des Friedhofes für die Opfer des Totalitarismus, die Offiziere der Polnischen Armee sowie die Einwohner der Stadt und Region Charkiw, die vom NKWD in Charkiw ermordet wurden. Dem Leid – die Wahrheit, für die Toten – das Gebet, im Angesicht Gottes, des Allmächtigen. Die Landsleute, Warschau – Charkiw 1998«
Sprache: Polnisch / Ukrainisch, Schrift: Kyrillisch / Lateinisch
Inschrift der Glocke
(auf dem Friedhof)
Text der »Bogurodzica«
Bogurodzica dziewica / Bogiem sławiena
Maryja! / U twego syna Gospodzina / Matko
zwolena, Maryja! / Zyszczy nam, spuści
nam / Kyrielejson / Twego dziela Krzciciela
/ bożycze usłysz głosy / napełń myśli
człowiecze. / Słysz modlitwę, jąż nosimy, /
A dać raczy, jegoż prosimy: / A na świecie
zbożny pobyt, / Po żywocie rajski przebyt. /
Kyrieleison.
Deutsche Übersetzung:
Gottesmutter, Unbefleckte, gottgeweihte Frau Maria, Bei dem Sohne auf dem Throne, benedeite Frau Maria, Bitt für uns, bet für uns! Kyrie eleison. Um des eigenen Täufers willen, Gottessohn, Hör die Stimmen, gib den Menschen rechten Lohn! Hör´s Gebet aus unsrer Mitten Und gewähr, was wir erbitten: Auf der Erde reichen Segen, Nach dem Tod ein ewig Leben. Kyrie eleison. Übersetzung nach Hans-Peter Hoelsch-Obermaier, in: Jelicz, Antonia: Polnisches Mittelalter. Ein literarisches Lesebuch, Frankfurt am Main 1987, S. 143.
Gottesmutter, Unbefleckte, gottgeweihte Frau Maria, Bei dem Sohne auf dem Throne, benedeite Frau Maria, Bitt für uns, bet für uns! Kyrie eleison. Um des eigenen Täufers willen, Gottessohn, Hör die Stimmen, gib den Menschen rechten Lohn! Hör´s Gebet aus unsrer Mitten Und gewähr, was wir erbitten: Auf der Erde reichen Segen, Nach dem Tod ein ewig Leben. Kyrie eleison. Übersetzung nach Hans-Peter Hoelsch-Obermaier, in: Jelicz, Antonia: Polnisches Mittelalter. Ein literarisches Lesebuch, Frankfurt am Main 1987, S. 143.
Sprache: Polnisch, Schrift: Lateinisch
Ereignisse
27. Juni 1998 - Grundsteinlegung
Feierliche Grundsteinlegung zum Bau des Friedhofs
Publikationen der Bundesstiftung
- Kaminsky, Anna (Hrsg.): Erinnerungsorte für die Opfer von Katyn, Leipzig 2013
- Kategorie: Gedenkort
- Historisch: Ja
- Standort: Belgoroder Chaussee (Bilhorod‘ske Schose), südlich der Ortschaft Pjatychatky
- Stadt: Charkiw
- Gebiet: Gebiet Charkiw
- Land: Ukraine