Torgau, Deutschland
Erinnerungsort Torgau
Das 1991 gegründete Dokumentations- und Informationszentrum (DIZ) Torgau arbeitet unter dem Dach der Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft. Es befasst sich mit der Geschichte der Torgauer Haftstätten – vom Wehrmachtstrafsystem über die sowjetischen Speziallager Nr. 8 und Nr. 10 bis zum Strafvollzug in der DDR. Mit Eröffnung der neuen Dauerausstellung „Mut und Ohnmacht“ im August 2024 benannte sich das DIZ in „Erinnerungsort Torgau“ um.
In Torgau, der Zentrale des Wehrmachtstrafsystems, befanden sich seit 1939 zwei von insgesamt acht Wehrmachtgefängnissen Deutschlands: Fort Zinna, das in den Jahren 1938 und 1939 zum größten und modernsten Gefängnis der Wehrmacht ausgebaut wurde und das Gefängnis Brückenkopf. In beiden Torgauer Wehrmachtgefängnissen saßen Kriegsdienst- und Befehlsverweigerer, Deserteure und wegen krimineller Delikte verurteilte Soldaten, aber auch Angehörige des deutschen und europäischen Widerstands. Besondere Bedeutung für das Wehrmachtstrafsystem erlangte Torgau als Überprüfungsstelle für kriegsgerichtlich verurteilte Soldaten, die zur „Frontbewährung“ bei der Bewährungstruppe 500 bestimmt waren. Torgau war außerdem Aufstellungsort der berüchtigten Feldstraflager I und II. In ihnen wurden Gefangene häufig willkürlich erschossen oder durch Hunger, Drill und Misshandlung zu Tode gequält, weshalb man sie unter Militärjuristen auch als „Konzentrationslager der Wehrmacht“ bezeichnete. Seit August 1943 residierte zudem das Reichskriegsgericht, die höchste Instanz der Wehrmachtjustiz, in der Torgauer Zieten-Kaserne.
Je länger der von Deutschland begonnene Krieg dauerte und je aussichtsloser der Kampf wurde, desto drakonischer bekämpfte die NS-Militärjustiz die Kriegsmüdigkeit in der Wehrmacht und die wachsende Opposition. Mehr als eine Million deutscher Soldaten wurde verurteilt, 20 000 von ihnen hingerichtet. Zum Vergleich: Im selben Zeitraum vollstreckten die westlichen Alliierten in ihren eigenen Reihen etwa 300 militärgerichtliche Todesurteile. Nach den unvollständigen Unterlagen der Torgauer Friedhofsverwaltung wurden in Torgau zwischen 1939 und 1945 allein in Torgau 197 Wehrmachtsangehörige erschossen. Andere Quellen legen die Vermutung nahe, dass die Zahl der Hinrichtungsopfer erheblich höher war. Auf den Trümmern der Torgauer Elbbrücke gaben sich der amerikanische Second Lieutenant Bill Robertson und der sowjetische Sergeant Nikolaj Andrejew am 25. April 1945 die Hand und symbolisierten damit den Sieg der Alliierten über das nationalsozialistische Deutschland im Zweiten Weltkrieg.
Im August 1945 richtete die sowjetische Geheimpolizei NKWD im Fort Zinna das Speziallager Nr. 8 ein. Die Mehrzahl der dort ohne Urteil festgehaltenen Gefangenen gehörten der NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei) oder anderen NS-Organisationen an, außerdem befanden sich mehrere Hundert Kriegsgefangene unter den Internierten. Als Grund für eine Verhaftung reichte die bloße Mitgliedschaft in einer Organisation oder eine Denunziation; konkrete Tatvorwürfe gab es selten. Die Hauptaufgabe der Speziallager bestand laut „Vorläufiger Lagerordnung“ vom 27. Juli 1945 in der „vollständigen Isolierung“ der Internierten. Das bedeutete auch, dass selbst die Angehörigen nicht über die Schicksale der Häftlinge informiert werden durften, auch nicht im Falle des Todes. Die Lebensmittelrationen und die medizinische Versorgung waren völlig unzureichend, so dass Auszehrung und Tuberkulose zu den häufigsten Todesursachen gehörten. Das Gefängnis Fort Zinna war für 1 000 Gefangene konzipiert, bis Ende 1945 war es jedoch mit 7 500 Häftlingenbelegt, die im Zellenbau, in eilig errichteten Baracken und in Kasematten der Festung notdürftig untergebracht wurden. Im März 1946 verlegte man das Lager in die benachbarte Seydlitz-Kaserne, wo es bis zu seiner Auflösung im Januar 1947 betrieben wurde. Danach wurden die Gefangenen in die Speziallager Buchenwald und Mühlberg überführt.
Fort Zinna wurde von Mai 1946 bis Oktober 1948 unter der Bezeichnung Speziallager Nr. 10 weiter geführt. Seine Besonderheit im System der sowjetischen Speziallager bestand darin, dass in ihm seit Herbst 1946 vor allem sowjetische Staatsangehörige, die von Sowjetischen Militärtribunalen (SMT) verurteilt worden und für die Deportation in die Zwangsarbeitslagerkomplexe der UdSSR vorgesehen waren, vor ihrem Abtransport gefangen gehalten wurden. Über Torgau vollzog sich die Hälfte aller Deportationen aus den Lagern in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) in die UdSSR. Die Militärgerichte verurteilten Sowjetbürger wegen „Kollaboration“ mit den Deutschen („Landesverrat“), wegen „unerlaubter Entfernung“, Desertion und krimineller Delikte zu fünf bis 25 Jahren „Besserungs-Arbeitslager“. Den deutschen Gefangenen wurde „Spionage“, „Sabotage“ oder „antisowjetische Propaganda“ vorgeworfen. Insgesamt starben nach sowjetischen Angaben von 1945 bis 1948 in den beiden Torgauer Speziallagern etwa 800 bis 850 Menschen, 130 davon durch Erschießen. Die Toten wurden auf dem Gelände des Gefängnisses bzw. in seiner unmittelbaren Nähe anonym verscharrt.
Ende Januar 1950 übernahm die Deutsche Volkspolizei das Fort Zinna für den Strafvollzug an denjenigen SMT-Verurteilten, die bei Auflösung der letzten Speziallager an das Innenministerium der DDR übergeben worden waren. Im ersten Jahr nach der Übernahme durch die Volkspolizei starben – geschwächt durch die jahrelange Lagerhaft – 115 Häftlinge an Tuberkulose, den schlechten Lebensbedingungen und möglicherweise auch an schweren Misshandlungen, die 1950 in Torgau an der Tagesordnung waren. Bis in die Mitte der 1950er Jahre war das Gefängnis um das Dreifache überbelegt. Nach Ende 1956 wurden die SMT-Verurteilten weitestgehend entlassen. Danach verbüßten Zeugen Jehovas, systemkritische Pfarrer, Verurteilte nach Befehl 201 (Kriegsverbrecher und Nationalsozialisten) oder nach Artikel 6 („Boykotthetze“) der DDR-Verfassung sowie „Wirtschaftsverbrecher“ ihre Strafen in Torgau. Seit April 1963 gewann Torgau als Strafvollzugseinrichtung für „Staatsverbrecher“ zunehmend an Bedeutung. In den 1970er und 1980er Jahren überwog der Anteil derjenigen, die wegen krimineller Delikte inhaftiert waren. Daneben verbüßten auch Gefangene, die wegen „ungesetzlichen Grenzübertritts“ oder anderer „Verbrechen gegen die DDR“ verurteilt worden waren, ihre Strafen in Torgau. „Republikflüchtige“ im Wiederholungsfall wurden in Torgau konzentriert. Seit 1990 befindet sich im Fort Zinna eine Justizvollzugsanstalt des Freistaates Sachsen.
Neben Fort Zinna gab es in Torgau zwischen 1964 und 1989 zudem den einzigen Geschlossenen Jugendwerkhof der DDR.
Seit dem 22. August 2024 ist am Erinnerungsort Torgau die neue Dauerausstellung „Wut und Ohnmacht“ zu sehen. Dargestellt werden Erzählungen von Mut, Zivilcourage, Verweigerung und Widerstand im Nationalsozialismus, unter der sowjetischen Besatzung und in der SED-Diktatur. Im Zentrum der Ausstellung stehen die Verbrechen der NS-Militärjustiz sowie die von ihr Verfolgten.
Das Archiv des Erinnerungsortes Torgau bietet Interessenten auf Antrag Zugang zu Akten und Berichten von ehemaligen Häftlingen. Die hauseigene Präsenzbibliothek beherbergt etwa 2.500 Buchtitel zur Geschichte des 20. Jahrhunderts mit Fokus auf die Themen NS-Militärjustiz, sowjetische Speziallager und Strafvollzug der DDR. Darüber hinaus verfügt die Gedenkstätte über eine umfangreiche Fotosammlung, deren gesamter Bestand in einer Datenbank erfasst ist.
Kontakt
Erinnerungsort Torgau - Stiftung Sächsische Gedenkstätten
Schlossstraße 27
04860 Torgau
Ereignisse
22. August 2024 - Eröffnung
Eröffnung neue Dauerausstellung "Mut und Ohnmacht"
Literatur
- Eberlein, Michael/Haase, Norbert/Oleschinski, Wolfgang: Torgau im Hinterland des Zweiten Weltkriegs. Militärjustiz, Wehrmachtsgefängnisse, Reichskriegsgericht, Leipzig 1999
- Oleschinski, Brigitte/Pampel, Bert: Feindliche Elemente sind in Gewahrsam zu halten. Die sowjetischen Speziallager Nr. 8 und Nr. 10 in Torgau 1945–1948, 2. Aufl., Leipzig 2002
Publikationen der Bundesstiftung
- Kaminsky, Anna (Hrsg.): Orte des Erinnerns. Gedenkzeichen, Gedenkstätten und Museen zur Diktatur in SBZ und DDR, 3. Aufl., Berlin 2016
- Kategorie: Gedenkort
- Historisch: Ja
- Standort: Schloss Hartenfels, Schlosstraße 27
- Stadt: Torgau
- Gebiet: Sachsen
- Land: Deutschland









